Das Wort „Talent“ ist stark in unseren Köpfen verankert und mit vielen falschen Vorstellungen und Missverständnissen verbunden, die wir meist nicht weiter hinterfragen.
Oft schaden uns diese Vorstellungen, weil wir uns für nicht talentiert genug halten und aus dieser Angst heraus gar nicht erst anfangen etwas zu lernen, was wir eigentlich schon immer lernen wollten. Eine häufige Idee über „Talent“, ist der Gedanke, dass man es „entweder hat, oder eben nicht“.
Ich möchte an folgendem Beispiel zeigen, dass diese Sichtweise extrem vereinfacht und schädlich ist und es einer genaueren Betrachtung bedarf, wenn man etwas über die wirklichen Ursachen erfahren möchte.
Hier unser Beispiel:
Zwei Freunde fangen zur gleichen Zeit an Gitarre zu spielen - Peter Müller und Jens Schmidt. Die beiden sind zwar Freunde, wissen aber nicht von dem anderen, dass er Gitarre spielt. Beide haben verschiedene Lehrer mit verschiedenen Unterrichtsmethoden. Keiner der beiden hatte jemals etwas mit Musik zu tun und jeder übt eine Stunde pro Tag.
Nach einem halben Jahr treffen sie sich zufällig beim Einkauf, plaudern ein wenig und finden raus, dass sie das gleiche Hobby gewählt haben – Gitarre spielen! Beide haben exakt am gleichen Tag angefangen Unterricht zu nehmen und zu üben – was für ein Zufall! :-)
Sie beschließen sich bald zu treffen, um Musik zu machen.
Eine Woche später ist es dann soweit und es zeigt sich sofort, dass Peter im gleichen Zeitraum viel größere Fortschritte gemacht hat als Jens. Jens ist entmutigt und fängt an zu glauben, dass er kein Talent hat.
Warum sonst wäre Peter in der gleichen Zeit so viel weiter als er?
Jens fängt an zu grübeln und beschließt die Sache genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nach einer weiteren Woche treffen sich die beiden noch einmal und Jens stellt Peter viele Fragen in Bezug auf seine Art zu Üben und dabei stellt sich Folgendes heraus:
Peter übt zu einem Großteil seiner Zeit wenige, kleine Bausteine, die ihm wirklich schwerfallen und übt diese mit hoher Konzentration immer wieder hintereinander - solange - bis sie ihm leichtfallen.
Jens hingegen springt von einer Übung zur nächsten, aber meistens spielt er einfach Sachen, die er schon ganz gut kann und die ihm Spaß machen.
Peter stellt vor seiner Übungszeit, das Internet, Handy, Telefon und die Türklingel ab (Peter war schon immer ziemlich extrem) und konzentriert sich vollkommen auf das, was er tut.
Auch seine Familie weiß, dass Peter diese Stunde für sich braucht und nur in echten Notfällen gestört werden kann. Nach dieser Stunde hat er wieder für alles Zeit, aber diese Stunde ist seinem Fortschritt auf dem Instrument gewidmet – in dieser Zeit konzentriert er sich auf DIESE EINE SACHE, die ihm wichtig ist.
Jens hingegen hat den Computer während des Übens immer an, und auch das Mail Programm ist immer auf – falls er eine wichtige Mail bekommt.
Auch sein Handy ist an, denn er muss „wichtige“ Nachrichten auf „WhatsApp“ empfangen können und erhält oft auch „wichtige“ Anrufe, die keine Minute warten können – er muss unbedingt immer erreichbar sein!
Während des Übens wird Jens zudem häufig von Familienmitgliedern unterbrochen, weil die Fernbedienung des Fernsehers Probleme macht oder der Müll rausgebracht werden muss.
Wenn man Jens beobachten würde, würde einem sofort auffallen, dass er kaum eine halbe Minute bei der Sache ist...
Peter sieht seine Übungszeit als „Termine mit sich selbst“ an und diese Termine sind ihm wirklich wichtig. Er plant im Voraus, wann er Zeit zum Üben hat, notiert sich diese Termine in seinen Kalender und hält sie ein.
23 Stunden am Tag ist er für die Welt da – diese eine Stunde ist für ihn, und diesen Termin hält er ein – auch wenn er manchmal ein wenig müde nach der Arbeit ist.
Manchmal wird es echt eng, mit all den Verpflichtungen die man so hat, aber Peter steht dann etwas früher auf und übt schon eine halbe Stunde bevor die Familie aufsteht.
Außerdem hatte sich Peter, bevor er überhaupt Unterricht nahm, überlegt etwas Platz in seinem Leben für sein neues Hobby zu schaffen und hat einige Aktivitäten reduziert bzw. aufgegeben, weil er wusste, dass er nicht alles gleichzeitig tun kann, wenn er Ergebnisse sehen will.
Peter weiß auch, dass er seine Zeit kontrollieren und einteilen muss – sonst wird die Welt dies für ihn tun, und er wird keine Zeit für irgendwas haben, weil ständig jemand etwas von ihm möchte und alles gleichermaßen „wichtig“ ist. Auf diese Weise wird niemals einer seiner Träume Realität werden!
Jens hatte sich ja auch vorgenommen wirklich eine Stunde am Tag zu üben, in der Praxis sieht das jedoch anders aus:
Jens ist ja auch noch im Fußballverein und Mitglied im Fitnessstudio, um sein Übergewicht abzubauen. Dann ist da noch der Zeichenkurs am Mittwoch in der VHS, der Englischkurs am Donnerstag und der Yoga Kurs am Wochenende – Jens hat wirklich viel zu tun!
Jens ist nicht Herr über seine Zeit, er plant zwar viele Dinge, die er verwirklichen möchte und fängt tausend Dinge an – bekommt aber in keiner einzigen Sache Resultate und kommt eigentlich zu nichts. Er sagt trotzdem immer, dass er das alles schon irgendwie „unter einen Hut bekommt“...
Peter hat einen Lehrer, der ein genaues Ziel für ihn entwickelt hat, einen großen Plan auf den beide hinarbeiten, und jede Unterrichtsstunde und Übungsminute bringt Peter diesem Ziel näher.
Peter bekommt von seinem Lehrer außerdem Übungsstrategien an die Hand, die ihm ermöglichen die meisten Resultate aus jeder Minute Übungszeit herauszuholen. Der Lehrer weiß auch, dass er für den neugierigen Peter die Informationen geschickt verwalten muss, um zu verhindern, dass Peter sich überfordert fühlt.
Der Lehrer von Peter weiß, dass früher oder später Gefühle wie Frustration aufkommen werden und bereitet ihn darauf vor, indem er ihm erklärt wie es dazu kommt und gibt ihm auch hier Strategien damit umzugehen.
Der Lehrer von Jens hat keinen Plan für ihn entwickelt. Er fragt Jens jede Stunde, was er heute in der Stunde machen möchte und Jens findet es super, dass der Lehrer so auf seine Wünsche eingeht! (Jens versteht nicht, dass dies ein deutliches Zeichen ist, dass sein Lehrer keinen Plan für seine Entwicklung hat und die Stunde gar nicht vorbereitet, sondern improvisiert...).
Übungsstrategien hat er nicht erklärt bekommen – der Lehrer meint, wenn man besser spielen will, muss man einfach noch mehr üben.
Jens´ Lehrer ist sich schädlicher Emotionen und deren Auswirkung auf die Fortschritte seiner Schüler bewusst, hat sich aber noch nie Gedanken darüber gemacht, wie man damit umgehen könnte. Er denkt aber, dass man da einfach „durch muss“ - außerdem hat er auch keine Zeit sich in seiner Freizeit auch noch mit solchen Themen zu beschäftigen.
Geh nun noch einmal zurück nach oben und vergleiche was Peter und Jens anders machen.
Kannst du dir denken, dass es absolut logisch ist, dass beide vollkommen andere Resultate bekommen MÜSSEN?
Es kann nicht anders sein, denn Peters Herangehensweise ist um 180 Grad verschieden zu der von Jens – so verschieden wie Tag und Nacht...und doch spielen beide Gitarre!
Mach Dir klar, dass nichts von den Dingen, die Peter macht mit Talent zu tun hat.
All diese Dinge könnte Jens ebenso tun, aber er tut sie nicht und er macht sich auch keine Gedanken darüber (was nicht zu seinem Vorteil ist).
Nach dem Gespräch wird Jens klar, dass Peter das Thema vollkommen anders angeht als er. Peter ist bei der Planung seiner Übungszeit (und auch bei der Planung seines Lebens) viel effektiver und konzentrierter und Jens versteht, dass es hier wahrscheinlich erstmal nicht um Talent geht, sondern um eine vollkommen andere Herangehensweise. Er sieht ein, dass seine Resultate direkt von ihm abhängig sind und das er, wenn er sich nicht entscheiden sollte seine Herangehensweise dramatisch zu ändern, keine besseren Resultate erwarten kann!
Wir sehen, dass das, was wir oberflächlich als „Talent“ bezeichnen, oft mit vielen anderen, grundlegend persönlichen Faktoren zu tun hat, die nichts mit natürlicher Begabung zu tun haben!
Alles Dinge, die sozusagen „unter der Oberfläche“ liegen – aber ALLE RESULTATE in unserem Leben bestimmen!
Glücklicherweise war Jens clever genug zu verstehen, dass viele andere Faktoren dazu beigetragen haben könnten, dass Peter mehr Fortschritte gemacht hat.
Stell Dir vor er hätte dieses Thema nicht weiter hinterfragt und wäre bei dem Gedanken, dass Peter „einfach mehr Talent hat“, hängengeblieben. Was wäre wohl passiert?
Er hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgegeben und hätte nun zusätzlich die Idee in seinem Kopf verankert, dass „er es mal mit Musik probiert hat, aber einfach untalentiert war“.
Wenn er dann andere Dinge probiert hätte, wie z.B. regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen, oder abnehmen und in diesen Dingen genauso ungeplant, unkonzentriert und chaotisch vorgegangen wäre – dann kann man sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, wie auch in diesen Dingen die Resultate aussehen...
Nach vieler solcher Erfahrungen würde sich Jens dann irgendwann vielleicht als „Versager“ bezeichnen, der den Mut verloren hat, irgendetwas Neues zu beginnen.
Wahnsinn, weil nichts davon mit einem Mangel an Talent zu tun hatte, sehr wohl aber mit seiner persönlichen Herangehensweise.
Ich bestreite nicht, dass natürliche Begabung existiert, sondern sage nur, dass die persönlichen Faktoren eine sehr, sehr große Rolle spielen und man mit der richtigen Einstellung eine Menge erreichen kann, selbst wenn jemand anderes mehr Begabung hat.
Ich hoffe, dass dir mein Artikel geholfen hat, dieses Thema einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.